Bundesverfassungsgericht bestätigt Akteneinsichtsrecht in Bußgeldverfahren

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat in einem Urteil vom 12.11.2020 verdeutlicht, dass bei Ordnungswidrigkeiten ein faires Verfahren nur dann gewahrt ist, wenn der Betroffene im Ordnungswidrigkeitenverfahren die Möglichkeit hat, das Tatgericht auf Zweifel aufmerksam zu machen und einen entsprechenden Beweisantrag zu stellen. Dazu müssen ihm auch Beweismittel zugänglich sein, die nicht Bestandteil der Bußgeldakte sind. Das betraf im konkreten Fall – der Betroffene war wegen zu hoher Geschwindigkeit von einem Blitzer erfasst worden – unter anderem den Zugang zur Lebensakte des Messgerätes, den Eichschein und die sogenannten Rohmessdaten (Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 12.11.2020; Az.: 2 BvR 1616/18).
Anspruch auf ordnungsgemäß gewonnener Messdaten
Jeder Verkehrsteilnehmer, dem eine Geschwindigkeitsüberschreitung oder ein Rotlicht- oder Abstandsverstoß vorgeworfen wird, hat Anspruch darauf, nur aufgrund ordnungsgemäß gewonnener Messdaten belangt zu werden. Es handelt sich um einen grundlegenden rechtsstaatlichen Anspruch von Verfassungsrang, der auch im Verkehrsrecht gilt, betont Rechtsanwalt Christian Demuth aus Düsseldorf. Die justizmäßige Ausprägung dieses Rechtsstaatsprinzips ist das Recht auf ein faires Verfahren, das auch „Fair Trial“ genannt wird.
Überfällige Entscheidung des Karlsruher Gerichts
Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts war nach Ansicht des Düsseldorfer Spezialisten für Verkehrsstrafrecht Christian Demuth überfällig, weil der Umfang der Aufklärungspflichten der Gerichte durch das sogenannte standardisierte Messverfahren reduziert ist. Die Gerichte beschränken sich bei der Feststellung einer Geschwindigkeitsüberschreitung, eines Rotlichtverstoßes oder eines Abstandsverstoßes in der Regel auf den Inhalt der Bußgeldakten, der den Anforderungen an ein standardisiertes Messverfahren genügt.
Das standardisierte Messverfahren ist bereits gegeben, wenn aus den in der Akte befindlichen Unterlagen hervorgeht, dass das Messgerät zum Zeitpunkt der Messung geeicht war und durch geschultes Personal entsprechend der Vorgaben der Bedienungsanleitung des Herstellers eingesetzt wurde. Die Richtigkeit der gemessenen Geschwindigkeit ist damit quasi indiziert.
Wenn der Betroffene darüber hinausgehende Informationen erhalten will, die bei der Ermittlung des Messergebnisses eine Rolle gespielt haben, aber nicht in der Gerichtsakte vorkommen, lehnen zahlreiche Gerichte die Gewährung dieser weiteren Informationen (z.B. die digitalen Rohmessdaten) ab.
Der Temposünder benötigt im Bußgeldverfahren aber gerade diese Informationen, um die Ordnungsgemäßheit der Blitzer-Messung und des ihm vorgeworfenen Messergebnisses umfassend überprüfen zu können.
Faires Bußgeldverfahren ermöglicht Suche nach Messfehlern
Der verbreiteten Ansicht zahlreicher Oberlandesgerichte, wonach die erweiterte Akteneinsicht nur gewährt werden müsse, wenn der Betroffen damit einen konkreten Hinweis auf einen Messfehler verbinde, erteilen die Verfassungsrichter eine klare Absage. Dies sei mit dem Anspruch auf ein faires Verfahren nicht vereinbar.
Es entspricht der jahrelangen Beobachtung des Verkehrsrechtsexperten Demuth, dass es bei Geschwindigkeitsmessungen keinen Erfahrungssatz gibt, dass die in Düsseldorf und anderswo eingesetzten Blitzer unter allen Umständen zuverlässige Messergebnisse liefern. Diese Ansicht teilten auch die Verfassungsrichter. Die technische Komplexität der bei Geschwindigkeitsmessungen zum Einsatz kommenden Messmethoden und Messgeräte und die bei standardisierten Messverfahren verringerten Anforderungen an die Beweiserhebung sowie die Urteilsfeststellungen der Fachgerichte lassen das Bedürfnis der Betroffenen nachvollziehbar erscheinen, Zugang zu weiteren Informationen über die Geschwindigkeitsmessung zu erhalten.
Uferlose Akteneinsicht kann vermieden werden
Den Bedenken, dass sich durch ein umfassendes Akteneinsichtsrecht die im Verkehrsrecht massenhaft vorkommenden Bußgeldverfahren endlos verzögern könnten, begegnen die Verfassungsrichter mit dem Hinweis, dass die von den Betroffenen begehrten Informationen in einem sachlichen und zeitlichen Zusammenhang mit dem Ordnungswidrigkeitsvorwurf stehen und eine erkennbare Relevanz für die Verteidigung gegen den Vorwurf aufweisen müssen. Für das Kriterium der Relevanz soll aber die Perspektive des Betroffenen bzw. seines Verteidigers maßgeblich sein.
Fazit von Rechtsanwalt Christian Demuth, Düsseldorf, zur Bedeutung der Entscheidung für das Verkehrsrecht
Eine Beschränkung des Umfangs der Akteneinsicht durch Bußgeldbehörden und Tatgerichte ist grundsätzlich unzulässig. Wenn der Betroffene geltend macht, er wolle sich selbst Gewissheit darüber verschaffen, dass sich aus den nicht in der Bußgeldakte befindlichen, aber bei der Bußgeldbehörde vorhandenen Informationen keine seiner Entlastung dienenden Tatsachen ergeben, wird ihm die durch seinen Verteidiger vermittelte Akteneinsicht grundsätzlich zu gewähren sein. Durch die Gewährung eines solchen Informationszugangs wird die Rechtsprechung zu standardisierten Messverfahren im Verkehrsrecht nicht abgeschafft. Als Betroffener kann man sich mit den Erkenntnissen aus dem Zugang zu weiteren Informationen aber nur erfolgreich verteidigen, wenn diese durch einen Rechtsanwalt im verkehrsrechtlichen Bußgeldverfahren rechtzeitig und qualifiziert geltend gemacht werden.
Ermittelt der im Verkehrsrecht versierte Anwalt des Betroffenen durch die erweiterten Informationen (z.B. digitale Rohmessdaten, Lebensakte zum Messgerät) dann konkrete Anhaltspunkte für ein fehlerhaftes Messergebnis des Blitzers, hat das Gericht zu entscheiden, ob es sich – gegebenenfalls unter Hinzuziehung eines Sachverständigen – dennoch von dem Geschwindigkeitsverstoß überzeugen kann.
Christian Demuth, Düsseldorf
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Inhalt dieses Beitrags
- Anspruch auf ordnungsgemäß gewonnener Messdaten
- Überfällige Entscheidung des Karlsruher Gerichts
- Faires Bußgeldverfahren ermöglicht Suche nach Messfehlern
- Uferlose Akteneinsicht kann vermieden werden
- Fazit von Rechtsanwalt Christian Demuth, Düsseldorf, zur Bedeutung der Entscheidung für das Verkehrsrecht